Vertrauen und Misstrauen

vertrauen

Der andere kann anders handeln als ich erwarte, und er kann, gerade wenn und gerade weil er weiß, was ich erwarte, anders handeln als ich erwarte (Luhmann, Soziale Systeme S 179ff).
Doppelte Kontingenz in diesem Sinne wirkt hemmend auf die Bildung sozialer Systeme – Handeln kann niemals zustandekommen, wenn wechselseitig das eigene Handeln vom Handeln des Gegenübers abhängig gemacht wird. (Talcott Parsons, Social Interaction, 1968)

Vertrauen (ebenso wie Misstrauen) reduziert diese soziale Komplexität indem Handlungsalternativen ausgeblendet bzw. unterstellt werden. Die auch heute noch in vielen Kulturen tief verwurzelte Gastfreundschaft ist ein gutes Beispiel für diese komplexitätsreduzierende Funktion des Vertrauens: Wohlwollen, Schutzbedürftigkeit und Freundschaft werden unterstellt, die Möglichkeit der Feindseligkeit wird ausgeblendet (und bleibt nur als eingegangenes Risiko bestehen).
Dieses Vertrauen nicht aufzubringen bedeutet, ein Übermaß an Komplexität managen zu müssen und führt zwangsläufig zur Handlungsunfähigkeit. Ein gutes Beispiel dafür ist das Verhalten der Instanzen der europäischen Union in Krisensituationen (Euro, verschuldete Staaten, Asylsuchende).

Dem Vertrauen steht als funktionales Äquivalent das Misstrauen gegenüber. Auch damit kann (ebenfalls durch Ausblendung und Unterstellung) Komplexität reduziert werden. Der Gastfreundschaft entspricht in diesem Sinne fremdenfeindliches Verhalten, das sich auf der Basis von Misstrauen manifestiert. Misstrauen hat die Funktion eines Schutzschildes der Ungemach abwenden soll, gleichzeitig aber den Möglichkeitenraum verschließt: Neue positive Erfahrungen, Zuwendung und Dankbarkeit werden weitgehend ausgeschlossen.

Um das Beispiel von oben wieder aufzugreifen: Die EU, als Konsens-Gemeinschaft, ist außerstande sich für das eine oder das andere zu entscheiden. Gleichzeitig ist sie massiv überfordert, die dadurch bestehen bleibende Komplexität „managen“ zu können. Vertrauen und Misstrauen manifestieren sich ausschließlich in (unkoordinierten nationalstaatlichen) Alleingängen und verunmöglichen in ihrer Gegensätzlichkeit den Konsens. Komplexität und Handlungsunfähigkeit auf EU-Niveau eskalieren.

Menschen und Soziale Systeme sind eher vertrauensbereit, wenn sie über innere Sicherheit verfügen, wenn ihnen eine Selbstsicherheit innewohnt, die sie befähigt, etwaigen Vertrauensenttäuschungen mit Fassung entgegenzusehen (vgl. Luhmann, Vertrauen, 1968). Diese Selbstsicherheit wird in der Praxis einerseits durch gezielte Angriffe darauf (politischer Populismus, Verbreiten von Gerüchten, mediale Überzeichnung, etc.) oder durch echten Vertrauensmissbrauch (der erfahrungsgemäß eher selten vorkommt) irritiert.


Vertrauen ist grundsätzlich die Strategie mit der wesentlich größeren Reichweite, „denn es fällt schwer, erwiesenes Vertrauen zu enttäuschen“ (Luhmann). Misstrauen reduziert jedoch ebenfalls soziale Komplexität und lässt sich obendrein politisch einfacher erklären.

Vertrauen, als fragiles Kartenhaus, geht immer mit Misstrauen einher und lässt den plötzlichen Umschlag in Misstrauen stets offen.
Umgekehrt lässt sich verloren gegangenes Vertrauen so leicht nicht wieder herstellen. Die Metamorphose des Misstrauens zum Vertrauen ist ein eher unwahrscheinlicher und jedenfalls langsamer Prozess.

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